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Briefing

Analyse des Referenten­entwurfs zur Umsetzung der Verbands­klage­richt­linie: Praktische Heraus­forderungen bei der Integration in die ZPO und damit zusammen­hängende Risiken für Unter­nehmen

Dieses Briefing ist Teil einer Reihe, in der wir den bisher vorliegenden Referentenentwurf zur Umsetzung der Verbandklagerichtlinie EU 2020/1828 tiefgehender analysieren. In diesem Briefing beleuchten wir die praktischen Herausforderungen, die sich bei der Integration des Entwurfs in die ZPO ergeben. Dabei handelt es sich nicht um rein akademische Fragestellungen: Die Einführung einer dem deutschen Zivilprozess bisher unbekannten kollektiven Leistungsklage und ihr Zusammenspiel mit bestehenden Grundsätzen des Zivilprozesses hat erhebliche praktische Auswirkungen. In diesem Briefing diskutieren wir die Einführung eines „Discovery light“-Mechanismus zur sanktionsbewährten Offenlegung von Beweismitteln (I.), die Möglichkeit des Gerichts zur Schätzung der Schadenshöhe als kollektiver Gesamtbetrag (II.) und die Befugnis des Sachwalters zur Entscheidung über die Anspruchsberechtigung der einzelnen Verbraucher*innen (III.). Wir meinen, dass diese im Referentenentwurf vorgesehenen Regelungen mit grundlegenden zivilprozessualen Prinzipien brechen und eine diesbezügliche Anpassung des Referentenentwurfs wünschenswert wäre.

I. Contempt of Court bzw. „Discovery light“: Vereinbarkeit mit dem zivilprozessualen Beibringungsgrundsatz?

Der Entwurf sieht vor, dass das Gericht die Vorlage von Urkunden, sonstigen Unterlagen, Akten oder Gegenständen anordnen kann. Dabei verweist der Entwurf ausdrücklich auf die bereits bestehenden Regelungen in der ZPO (§§ 142 – 144 ZPO) und setzt damit auf die dort geregelten Voraussetzungen für Vorlageanordnungen auf. Somit gilt auch im Rahmen der Abhilfeklage, dass das Gericht die Befugnis hat, zum Zweck einer vollständigen Sachaufklärung und der Beschleunigung des Verfahrens von Amts wegen Beweis zu erheben. Zusätzlich eröffnet der Referentenentwurf dem Gericht die Möglichkeit, bei Nichtvorlage von Beweismitteln mehrfach Ordnungsgeld festzusetzen. Diese erzwungene Vorlage von Beweismitteln ist eine überschießende Umsetzung der Richtlinie, die aus Sicht des deutschen Zivilprozessrechts systemwidrig ist.


1. Beibringungsgrundsatz als zentrales Prinzip des deutschen Zivilprozesses

Die Befugnis, die Vorlage von Beweismitteln anzuordnen, modifiziert den Beibringungsgrundsatz. Dieser besagt, dass jede Partei grundsätzlich die für sie günstigen Tatsachen darlegen und beweisen muss. Um den Beibringungsgrundsatz nicht vollständig auszuhebeln und einen Ausforschungsbeweis zu verhindern, sieht das deutsche Prozessrecht ausgleichende Maßnahmen vor: Das Gericht kann die Vorlage von Beweismitteln auf der Grundlage der §§ 142 – 144 ZPO nur innerhalb der Grenzen des Parteivortrags anordnen, also wenn die zu belegenden Tatsachen streitig und entscheidungserheblich sind sowie hinreichend substantiiert von der beweisbelasteten Partei vorgetragen werden. Nach geltender Rechtslage kann das Gericht die Vorlageanordnung nicht erzwingen. Die Nichtbefolgung der Vorlageanordnung führt vielmehr entweder dazu, dass der Sachvortrag der betroffenen Partei als nicht substantiiert betrachtet wird oder die Nichtvorlage wird im Rahmen der Beweiswürdigung zum Nachteil der nichtvorlegenden Partei berücksichtigt.

2. Sanktionsbewehrte, erzwungene Vorlage von Beweismitteln ist systemwidrig

In diese im geltenden Prozessrecht verankerten Konsequenzen – also der Berücksichtigung der Nichtvorlage von Beweismitteln im Rahmen der Beweiswürdigung – greift der Entwurf ein, indem er es dem Gericht ermöglicht, die unterbliebene Vorlage von Beweismitteln durch die Verhängung von Ordnungsgeld zu sanktionieren. Der Entwurf sieht vor, dass das Gericht die Festsetzung von Ordnungsgeld in Höhe von bis zu EUR 250.000 androhen und für den Fall, dass die Partei das Beweismittel nicht vorlegt, festsetzen kann. Nach dem Entwurf handelt es sich auch nicht um eine einmalige Befugnis, sondern das Gericht kann diese Sanktion mehrfach – ggf. mit Ordnungsgeld in anderer Höhe – wiederholen. Eine „Obergrenze“ für die Verhängung von Ordnungsgeld gibt es nicht.

Damit führt der Entwurf eine Contempt of Court-Regelung bzw. „Discovery light” zur erzwungenen Vorlage von Beweismitteln ein, die dem deutschen Zivilprozess fremd ist. Dies ist mit dem Beibringungsgrundsatz nur schwer zu vereinbaren und birgt die Gefahr einer Beweiserhebung zur Ausforschung.

Das in einigen anderen Rechtsordnungen geltende Prinzip von Contempt of Court erlaubt es dem Gericht, eine Partei zu sanktionieren, wenn sie das Gericht „missachtet“ und sich beispielsweise gerichtlichen Anordnungen widersetzt. Anders als andere Rechtsordnungen, die Verpflichtungen zur Vorlage von Unterlagen sanktionieren, enthält die deutsche ZPO jedoch keine ausgleichenden Schutzmechanismen zugunsten des beklagten Unternehmens, wie beispielsweise ein Konzept des Legal Privilege. Legal Privilege schützt die Kommunikation von Mandanten mit ihren Rechtsberatern und im Zusammenhang mit streitigen Verfahren auch mit Dritten wie z.B. mit Sachverständigen oder Zeugen, wenn die Kommunikation die Förderung des Prozesses betrifft. Dokumente, die dem Legal Privilege unterfallen, müssen nicht herausgegeben werden. Dementsprechend drohen der Partei auch keine Sanktionen, wenn sie diese Dokumente dem Gericht nicht vorlegt. Die Rechtsordnungen, die Bußgelder wegen Contempt of Court kennen, respektieren auch das Konzept des Legal Privilege. Würden deutsche Gerichte nun aufgrund der Befugnis im Referentenentwurf im Rahmen der Abhilfeklage die Herausgabe interner Unterlagen wie z.B. Untersuchungsberichte erzwingen, würde dies zu einem erheblichen Wettbewerbsnachteil von Unternehmen mit Sitz in Deutschland führen, da Unternehmen mit Sitz im Ausland aufgrund der dort geltenden Legal Privilege-Regeln vergleichbare Beweismittel nicht vorlegen müssten.

Vor diesem Hintergrund passt die im Referentenentwurf vorgesehene Sanktionierung der Nichtoffenlegung von Beweismitteln nicht mit dem Beibringungsgrundsatz zusammen und belastet das Unternehmen ohne flankierenden Schutz durch Legal Privilege über Gebühr.

3. Wiederholte Verhängung von Ordnungsgeld ist überschießende Umsetzung der Verbandsklagerichtlinie

Die erzwungene – und mehrfach sanktionsbewehrte - Vorlage von Beweismitteln überrascht vor allem deshalb, weil der Referentenentwurf „ohne Not“ mit dem Beibringungsgrundsatz bricht, d.h. ohne eine entsprechende Verpflichtung aus der Verbandsklagerichtlinie. Wie die Begründung des Referentenentwurfs zutreffend feststellt, würden die bereits bestehenden Befugnisse des Gerichts nach §§ 142 – 144 ZPO ausreichen, um den Vorgaben des Art. 18 der Richtlinie zur Offenlegung von Beweismitteln zu entsprechen. In Bezug auf die Sanktionierung durch Ordnungsgeld heißt es in der Begründung weiter, dass dies der Umsetzung von Art. 19 der Verbandsklagerichtlinie diene. Nach dieser Vorschrift stellen die Mitgliedstaaten Sanktionen u.a. in Form von Geldbußen für den Fall sicher, dass eine Partei einer gerichtlichen Anordnung zur Vorlage von Beweismitteln nicht nachkommt. Voraussetzung ist, dass es einen Antrag der jeweils anderen Partei auf Vorlageanordnung gibt, diese Partei bereits Beweismittel zur ausreichenden Substantiierung der Verbandsklage vorgelegt hat und die Vorlageanordnung im Einklang mit unionsrechtlichen und nationalen Vorschriften über Vertraulichkeit und Verhältnismäßigkeit steht. Im entsprechenden Erwägungsgrund der Richtlinie heißt es, dass die Mitgliedstaaten auch andere Sanktionen als Geldbußen vorsehen sollen, wenn sich eine Partei weigert, eine Anordnung auf Offenlegung von Beweismitteln zu befolgen. Über diese Anforderungen der Richtlinie geht der Referentenentwurf hinaus, indem er dem Gericht die Möglichkeit einräumt, nach freiem Ermessen eine Vorlageanordnung unabhängig von einem Antrag der jeweils anderen Partei zu erlassen und gleich mehrfach wegen desselben nicht-vorgelegten Beweismittels Ordnungsgeld zu verhängen. Andere Sanktionen für die Nichtvorlage von Beweismitteln, wie z.B. die zivilprozessrechtlich bewährte Berücksichtigung der Nichtvorlage im Rahmen der Beweiswürdigung, werden im Referentenentwurf nicht ausdrücklich erwähnt.

4. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Geheimnisschutz als notwendiges Korrektiv

Bleibt es bei der Vorschrift, kann das Gericht die Vorlage von vertraulichen Unterlagen wie z.B. unternehmensinternen Untersuchungsberichten oder anderer geheimer Unterlagen anordnen und bei Verweigerung der Vorlage wiederholt Ordnungsgelder von EUR 250.000 festsetzen. Die Verhängung dieser Ordnungsgelder würde zudem mit einem hohen Reputationsrisiko für das Unternehmen einhergehen. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Gerichte bei Ausübung dieser prozessualen Befugnis den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten und das Interesse des Unternehmens zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen ausreichend berücksichtigen. Dies ist in Art. 18 der Verbandsklagerichtlinie, der auf die Geltung der nationalen Vorschriften über Vertraulichkeit und Verhältnismäßigkeit hinweist, auch ausdrücklich vorgesehen.

5. Änderungsvorschlag zur besseren Vereinbarkeit mit Beibringungsgrundsatz: Keine sanktionierte Vorlageanordnung für Beweismittel

Um das Verfahren im Rahmen der Abhilfeklage bestmöglich mit dem Beibringungsgrundsatz zu vereinbaren, sollte der Referentenentwurf dahingehend angepasst werden, dass das Gericht eine sanktionsbewährte Vorlageanordnung von Beweismitteln nur noch auf Antrag der anderen Partei erlassen kann und die mehrfache Verhängung von Ordnungsgeld gestrichen wird. Zudem sollte im Referentenentwurf klargestellt werden, dass die Nichtvorlage von Beweismitteln im Regelfall wie auch sonst im Zivilprozess üblich im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt werden sollte.

II. Verurteilung zur Zahlung eines kollektiven Gesamtbetrags: Schadensschätzung auf unrealistischer Grundlage?

Sollte der Referentenentwurf wie vorgeschlagen in Kraft treten, würden sich erhebliche finanzielle Belastungen und Unsicherheiten für das Unternehmen aus der Zahlung eines kollektiven Gesamtbetrags als Schaden ergeben.

1. Abhilfeendurteil zur Zahlung eines kollektiven Gesamtbetrags

Der Referentenentwurf sieht ein mehrstufiges Verfahren vor: Mit einem Abhilfegrundurteil entscheidet das Gericht zunächst über den Anspruch dem Grunde nach. Es schließt sich eine Vergleichsphase an, in der die Parteien eine gütliche Einigung zur Umsetzung des Abhilfegrundurteils anstreben sollen. Kommt es nicht zum Vergleich, erlässt das Gericht ein Abhilfeendurteil. Das Abhilfeendurteil soll schließlich in der Umsetzungsphase abgewickelt werden, im Rahmen derer ein Sachwalter die Leistung an die angemeldeten Verbraucher*innen auskehrt (dazu mehr Infos hier).

Nach dem Referentenentwurf kann das Gericht die Höhe des kollektiven Gesamtbetrags unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung bestimmen, wenn die klageberechtigte Stelle keine bestimmte Einzelzahlungsanträge für namentlich bestimmte Verbraucher*innen gestellt hat. Erläuternd hierzu heißt es in der Begründung des Entwurfs, dass die klageberechtigte Stelle angehalten ist, dem Gericht konkrete Anhaltspunkte als Grundlage für die Schätzung mitzugeben. Konkret wird auf die Möglichkeit verwiesen, dem Gericht einen aktuellen Auszug aus dem Klageregister vorzulegen, aus dem sich die Anzahl der angemeldeten Verbraucher*innen und die Anzahl der Ansprüche ergeben soll. Zudem soll die klageberechtigte Stelle dem Gericht Anhaltspunkte für die Bestimmung der Anspruchshöhe geben, indem sie z.B. zur durchschnittlichen Schadenshöhe vorträgt. Das Gericht darf zudem bei seiner Schätzung unterstellen, dass alle angemeldeten Ansprüche in voller Höhe berechtigt sind. Anschließend muss das Unternehmen den vom Gericht geschätzten kollektiven Gesamtbetrag an den Sachwalter in einen Abwicklungsfonds einzahlen und somit vorschießen. Erst am Ende des Abwicklungsverfahrens werden eventuelle Überschüsse an das Unternehmen zurückerstattet.

2. Vorschuss an den Sachwalter auf unsicherer Grundlage

Die im Referentenentwurf vorgesehene Verurteilung zur Zahlung eines kollektiven Gesamtbetrags geht mit erheblichem (finanziellen) Druck und Rechtsunsicherheit für das Unternehmen einher. Aufgrund des drohenden enormen Cash-Abflusses durch die Zahlung des kollektiven Gesamtbetrags als Vorschuss kann dies im Extremfall zur Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz führen. Diese besonderen Belastungen für das Unternehmen sind mit dem deutschen Zivil(prozess)recht in mehrfacher Hinsicht nicht vereinbar.

(a) Annahme eines Höchstbetrags passt nicht zum zivil(prozessualen) Rahmen

Durch die im Referentenentwurf vorgesehene Befugnis des Gerichts, den kollektiven Gesamtbetrag als Höchstbetrag zu schätzen, besteht das erhebliche Risiko, dass das Unternehmen nach Erlass des Abhilfegrundurteils enormen finanziellen Belastungen ausgesetzt zu sein wird, die sich im Nachhinein als unbegründet herausstellen. Die Ausgestaltung der Schadensschätzung im Zusammenhang mit der Vorschussregelung an den Sachwalter fügt sich jedenfalls in der praktischen Anwendung nicht in den bisher geltenden zivil(prozess)rechtlichen Rahmen ein.

Nach geltender Rechtslage kann ein Gericht gemäß § 287 ZPO die Schadenshöhe unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung schätzen. Nach dem Referentenentwurf ist § 287 ZPO auf die Abhilfeklage entsprechend anwendbar. Die Vorschrift des § 287 ZPO erlaubt es dem Gericht, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwartende Schadenshöhe festzustellen. Zur Berechnung der Schadenshöhe hat das Gericht alle Umstände, die für die Berechnung des zu leistenden Ersatzes relevant sind, zu berücksichtigen. Insbesondere muss das Gericht im Rahmen des § 287 ZPO auch prüfen, ob im Einzelfall Abzüge unter dem Gesichtspunkt eines Vorteilsausgleichs in Betracht kommen. Im Zweifel ist das Gericht angehalten, einen Mindestschaden anzunehmen. Damit ist die Annahme eines Höchstschadens, wie es der Referentenentwurf vorsieht, nicht zu vereinbaren. Nach dem Referentenentwurf darf das Gericht für den Erlass des Abhilfeendurteils gerade auf die Prüfung verzichten, ob ein etwaiger Vorteil für die Verbraucher*innen auf die Schadenshöhe anzurechnen ist, und kann das Unternehmen schlicht zur Zahlung eines Gesamtbetrags in Maximalhöhe verurteilen.
Auch materiell-rechtlich fügt sich die Verurteilung zur Zahlung eines Vorschusses als Höchstbetrag und folglich der „höchstmögliche“ Vorschuss an den Sachwalter nicht stimmig ein. Soweit die Zahlung von Vorschüssen z.B. im Werkrecht oder im Mietrecht zur Mängelbeseitigung gesetzlich vorgesehen ist, wird auch dort nicht der maximale Höchstbetrag eingefordert, sondern der Betrag, der die voraussichtlichen Kosten der Mängelbeseitigung abdeckt. Mit anderen Worten: der Vorschuss umfasst üblicherweise den realistischen Betrag für die Mängelbeseitigung.

Es wäre deshalb wünschenswert, wenn das Gericht den kollektiven Gesamtbetrag aufgrund einer realistischen Schadensschätzung – und nicht aufgrund eines Höchstbetrags wie im Referentenentwurf vorgesehen –bestimmen würde.

(b) Anzahl der angemeldeten Verbraucher*innen ist nicht aussagekräftig für Bestimmung des kollektiven Gesamtbetrags

Neben der möglichen Schätzung eines Höchstbetrages wird das Unternehmen durch eine weitere Annahme bei der Bestimmung des kollektiven Gesamtbetrags benachteiligt: Nach dem Referentenentwurf soll sich das Gericht bei der Schätzung des kollektiven Gesamtbetrags an der Anzahl der im Klageregister angemeldeten Verbraucher*innen orientieren.

Die Anzahl der angemeldeten Verbraucher*innen, wie sie aus dem Klageregister hervorgeht, ist jedoch keine ausreichende Grundlage für die Schätzung eines kollektiven Gesamtbetrags. Eine realistische Schätzung ist nur möglich, wenn eine Prüfung, wie viele Anmelder tatsächlich einen berechtigten Anspruch haben, zeitlich vor Bestimmung des kollektiven Gesamtbetrags erfolgt.

Denn Erfahrungen mit Musterfeststellungsklagen zeigen, dass allen registrierten Verbraucher*innen typischerweise weder dem Grunde nach noch der Höhe nach ein voller Schadensausgleich zusteht. Bis zu 40% der registrierten Verbraucher*innen haben die Anspruchsvoraussetzungen bei Musterfeststellungsklagen in der Vergangenheit nicht erfüllt. Dies ist auch nicht weiter überraschend, da die Anmeldung zum Klageregister für die Verbraucher*innen bewusst niedrigschwellig ausgestaltet ist, d.h. für die Anmeldung müssen keinerlei Nachweise vorgelegt werden. Irrtümer auf Seiten der Verbraucher*innen entstehen dabei leicht, z.B. weil sich das Verfahren auf eine bestimmte Produktserie bezieht, die Verbraucher*innen aber ein ähnliches Produkt einer anderen Serie besitzen.

Würde die Regelung zur Zahlung eines kollektiven Gesamtbetrags wie im Referentenentwurf vorgesehen umgesetzt werden, wäre die Folge, dass das Unternehmen immense Summen vorschießen müsste, ohne dass sie einen realistischen Bezug zum tatsächlich angefallenen Schaden haben. Dass aus dem Vorschuss nicht aufgebrauchte Beträge am Ende des Umsetzungsverfahrens – also potenziell nach vielen Jahren – wieder erstattet werden, ist hierfür kein angemessener Ausgleich.

3. Änderungsvorschlag für verbesserte Rechtssicherheit: Schätzung als realistischer Gesamtbetrag und frühzeitiger Nachweis der Anspruchsberechtigung

Zur Abmilderung der Belastungen für das Unternehmen sollte der Referentenwurf zumindest in folgender Hinsicht geändert werden:

  • Der kollektive Gesamtbetrag sollte nicht als Höchstbetrag geschätzt werden, sondern nur als realistischer Gesamtbetrag. Dementsprechend sollte die Befugnis des Gerichts zur Annahme des Höchstbetrags aus der Gesetzesbegründung gestrichen werden.
  • Die Prüfung, wie viele Anmelder tatsächlich einen berechtigten Anspruch haben, sollte frühzeitig noch vor Bestimmung des kollektiven Gesamtbetrags erfolgen. Hierfür müssen die Anmelder bereits vor Erlass des Abhilfeendurteils ihre Anspruchsberechtigung sowie die Umstände nachweisen, die ihre individuelle Anspruchshöhe im Sinne der vom Gericht im Abhilfegrundurteil ausgeurteilten Berechnungsmethode belegen.

III. Prüfung der Anspruchsberechtigung durch einen Sachwalter: Vereinbarkeit mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter und dem Grundsatz der Waffengleichheit?

Der Referentenentwurf lagert die Prüfung, ob die Verbraucher*innen anspruchsberechtigt sind, an den Sachwalter bzw. die Sachwalterin aus. Hierin liegt ein Verstoß gegen das verfassungsrechtlich geschützte Recht auf den gesetzlichen Richter.

Nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Diese Norm ist eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und die zentrale Vorgabe für die Gerichtsorganisation. Sie soll das Vertrauen der Rechtssuchenden und der Öffentlichkeit in die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte gewährleisten. Der Gesetzgeber ist dazu verpflichtet, eine klare und abstrakt-generelle Zuständigkeitsordnung zu schaffen, die für jeden denkbaren Streitfall im Voraus den Richter bzw. die Richterin festlegt, der oder die für die Entscheidung zuständig ist. Insbesondere verbietet es die Norm, dass ein Richter oder eine Richterin einzelfallbezogen zur Entscheidung eines konkreten Rechtsstreits ausgewählt wird.

Die im Referentenentwurf vorgesehene Rolle des Sachwalters wird diesem Leitbild des gesetzlichen Richters nicht gerecht. Nach dem Referentenentwurf soll der Sachwalter bzw. die Sachwalterin die geltend gemachten Ansprüche nach Maßgabe des Abhilfegrundurteils prüfen und wenn der Sachwalter bzw. die Sachwalterin die Ansprüche als berechtigt ansieht, unmittelbar durch Auszahlung aus dem Umsetzungsfonds erfüllen. Damit soll der Sachwalter bzw. die Sachwalterin eine sonst dem Gericht obliegende materiell-rechtliche Prüfung für den Einzelfall durchführen und auch die Kommunikation mit den Verbraucher*innen übernehmen. Damit wird die aufwändige und kostenintensive Rechtsfindung – die originäre Aufgabe eines Gerichts – im Einzelfall quasi privatisiert. Mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter ist diese materiell-rechtliche Entscheidungskompetenz des Sachwalters nur schwer zu vereinbaren.

Sollte der Referentenentwurf so bestehen bleiben, würde es sich bei der Bestellung des Sachwalters bzw. der Sachwalterin um eine Auswahl eines/r (privatisierten) Quasi-Richter*in für den konkreten Rechtsstreit handeln, was das Recht auf den gesetzlichen Richter gerade verbietet. Denn die Person des Sachwalters wird nach dem Referentenwurf vom Gericht für das konkrete Umsetzungsverfahren ausgewählt, wobei das Gericht den Umfang und die Komplexität des konkreten Umsetzungsverfahrens berücksichtigen soll. Somit steht entgegen dem Recht auf den gesetzlichen Richter nicht vorher zweifelsfrei fest, wer über die Anspruchsberechtigung im Einzelfall entscheiden soll.

Um den Bruch mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter zu vermeiden, läge es sowohl im Interesse des Unternehmens als auch im Interesse der Verbraucher*innen, wenn sich die Befugnisse des Sachwalters bzw. der Sachwalterin darauf beschränken würden, als Treuhänder*in die Auszahlung von Geldern zu veranlassen.

Auch ist das Sachwalterverfahren, wie es in dem Referentenentwurf ausgestaltet ist, nicht mit dem Grundsatz der Waffengleichheit zu vereinbaren. Denn es benachteiligt das Unternehmen unverhältnismäßig gegenüber den Verbraucher*innen.

Das Unternehmen tritt im Rahmen des Sachwalterverfahrens bei der Leistung an die Verbraucher*innen in Vorleistung und kann etwaige ungerechtfertigte Leistungen lediglich im Wege einer anschließenden Individualklage von den Verbraucher*innen zurückfordern. Im Umsetzungsverfahren kann das Unternehmen keine rechtshindernden, rechtshemmenden oder rechtsvernichtenden Einwendungen geltend machen. Im Rahmen der Individualklage hat das Unternehmen zwar einen Herausgabeanspruch nach den Regeln der ungerechtfertigten Bereicherung und Verbraucher*innen können sich nach dem Referentenentwurf ausdrücklich nicht auf Entreicherung berufen, aber das Risiko der Zahlungsunfähigkeit der Verbraucher*innen verbleibt beim Unternehmen.

Eine weitere unverhältnismäßige finanzielle Belastung des Unternehmers ergibt sich daraus, dass das Unternehmen nach dem Referentenentwurf die Kosten des Umsetzungsverfahrens vollständig tragen soll. Diese Kosten umfassen die Vergütung und die Auslagen des Sachwalters bzw. der Sachwalterin. Zu den Auslagen gehören auch Verbindlichkeiten, die der Sachwalter bzw. die Sachwalterin im Rahmen ihrer Befugnisse begründet. Nach der Begründung des Referentenentwurfs zählt hierzu insbesondere die Einbindung von dritten Dienstleistern zur Gewährleistung einer zügigen Abwicklung (z.B. Betreiber von Online-Portalen zum Hochladen von Berechtigungsnachweisen von Verbrauchern). Das Unternehmen soll diese Kosten tragen, ohne eine korrespondierende Kontrollmöglichkeit zu haben. In dem Referentenentwurf ist nicht vorgesehen, dass das Unternehmen die Aufgabenerfüllung durch den Sachwalter sowie die Einbindung von dritten Dienstleistern während des Umsetzungsverfahrens zumindest stichprobenhaft überprüfen und überwachen kann. Es gibt insbesondere keine Auskunfts- und Informationsrechte des Unternehmens im laufenden Umsetzungsverfahren. Es dürfte deshalb für das Unternehmen schwierig sein, das Gericht auf Fehlentwicklungen wie strukturelle Probleme bei der Abwicklung von Zahlungen aufmerksam zu machen.

Im Referentenentwurf bleibt zudem unklar, was mit „angemessener“ Vergütung des Sachwalters gemeint ist – eine klare Regelung wie etwa bei der Vergütung von gerichtlichen Sachverständigen oder Insolvenzverwaltern wäre deshalb wünschenswert.

IV. Fazit

Die im Referentenentwurf vorgesehenen Regelungen zur mehrfachen, sanktionsbewehrten Anordnung zur Vorlage von Beweismitteln, die Möglichkeit des Gerichts zur Schadensschätzung ohne Bezug zum „realistischen“ Schaden sowie die Auslagerung von der originären gerichtlichen Befugnis zur Entscheidung über die Anspruchsberechtigung im Einzelfall sind mit wesentlichen Grundsätzen des Zivil(prozess)rechts nicht vereinbar. Sie stellen einen Systembruch mit erheblichen praktischen Risiken vor allem für das Unternehmen dar.

Eine Überarbeitung des Referentenentwurfs wäre vor diesem Hintergrund wünschenswert.

Freshfields Briefing - Umsetzung VerbandsklageRL Dezember 2022
(PDF - 204.2 KB)

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